Am 24. April 2025 gedenken wir des 110. Jahrestages des Genozids von 1915 an den Christen im Osmanischen Reich (Armenier, Aramäer – d.h. Syrer, Assyrer und Chaldäer –, Pontus Griechen), einer Tragödie, die nicht nur die betroffenen Gemeinschaften, sondern auch die geopolitischen Dynamiken in der Region geprägt hat.
Von Martin Halef
Dieser Artikel beleuchtet die historischen Hintergründe des Genozids, die Verantwortung der Türkei als Erbin des Osmanischen Reichs und das Spannungsfeld zwischen Islam und Christentum, und zieht Parallelen zu den aktuellen Konflikten, insbesondere im Hinblick auf die ethnischen Säuberungen in Berg-Karabach durch Aserbaidschan mit Unterstützung der Türkei.
Historische Hintergründe
Der Genozid begann 1915 während des Ersten Weltkriegs, als das Osmanische Reich, unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit, eine systematische Vernichtung der christlichen im Allgemeinen und der armenischen Bevölkerung im Besonderen initiierte.
Schätzungen zufolge wurden etwa 1,5 Millionen Armenier und 1,0 Millionen Mitglieder anderer christlichen Minderheiten (Aramäer, Pontus Griechen, u.a.) ermordet, und viele weitere wurden vertrieben. Diese Gräueltaten waren durch Massaker, Zwangsumsiedlungen und -islamisierungen sowie Todesmärsche geprägt, die als Teil einer umfassenden Strategie zur ethnischen Säuberung angesehen werden.
Die Jungtürken, ein nationalistisches Regime, das ab 1908 die Kontrolle über das Osmanische Reich übernahm, spielten eine zentrale Rolle bei der Planung und Durchführung der Gräueltaten. Ihr Ziel war es, einen homogenen türkischen Nationalstaat zu schaffen, was zur gezielten Verfolgung und Auslöschung der nicht-türkischen ethnischen Gruppen, insbesondere der Armenier und Aramäer, führte.
Die Verantwortung der Türkei als Erbin des Osmanischen Reichs ist nicht nur historisch, sondern auch gegenwärtig von Bedeutung. Trotz der klaren Beweise für den Genozid und der Forderung nach Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft bleibt die Türkei standhaft in ihrer Ablehnung, die Ereignisse von 1915 als Genozid zu bezeichnen. Diese Leugnung ist Teil einer breiteren nationalistischen Ideologie, die sich auf die Errichtung einer starken, einheitlichen nationalen Identität stützt. Die Verklärung der Jungtürken und die Missachtung ihrer Verbrechen tragen zur anhaltenden Traumatisierung und zum Schmerz der armenischen und aramäischen Gemeinschaften bei.
Der Genozid bleibt für die armenische und aramäische Diaspora und das moderne Armenien von zentraler Bedeutung. Die Anerkennung des Genozids ist ein wichtiger Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses und der Identität dieser Bevölkerungsgruppen. Trotz internationaler Aufrufe zur Gerechtigkeit und zur Anerkennung des Genozids gibt es immer noch Länder, darunter die Türkei, die sich weigern, die Taten als Genozid zu benennen.
Das Spannungsfeld von Islam und Christentum
Ein weiterer entscheidender Aspekt in der Diskussion um den Genozid ist das Spannungsfeld zwischen Islam und Christentum. Die Osmanische Gesellschaft war geprägt von einer Vielzahl ethnischer und religiöser Gruppen, doch die politische und gesellschaftliche Dominanz des Islam führte häufig zu Spannungen und Diskriminierung gegenüber den christlichen Gemeinschaften.
Die Jungtürken nutzten diese Spannungen strategisch, um ihre nationalistischen Ziele voranzutreiben. Die Unterdrückung und Auslöschung der christlichen Bevölkerung wurden nicht nur als militärische Notwendigkeit gerechtfertigt, sondern auch als Teil einer religiösen Kriegsführung, die darauf abzielte, die muslimische Identität des Staates zu stärken und die christlichen Elemente zu eliminieren. Diese Dynamik hat tiefe Wunden hinterlassen und verstärkt die Komplexität des aktuellen Konflikts in Berg-Karabach, wo ethnische und religiöse Identitäten weiterhin eine bedeutende Rolle spielen.
Berg-Karabach und der aktuelle Konflikt
In den letzten Jahrzehnten ist der Konflikt um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut aufgeflammt. Die Region, die historisch armenisch geprägt ist, wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion zum Streitpunkt zwischen den beiden Ländern. Der Krieg von 2020 führte zu einer weiteren Eskalation der Gewalt und ethnischen Spannungen.
Die jüngsten Entwicklungen, insbesondere die ethnische Säuberung der armenischen Bevölkerung aus Berg-Karabach, sind alarmierend. Aserbaidschan hat unter dem Vorwand der Wiederherstellung der territorialen Integrität aggressive Massnahmen ergriffen, die zu Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen geführt haben. Die Rolle der Türkei als strategischer Partner Aserbaidschans verstärkt diese Probleme, da Ankara militärische und logistische Unterstützung bietet und gleichzeitig die nationalistischen Bestrebungen in der Region anheizt.
Parallelen zum Genozid von 1915
Die Parallelen zwischen den Ereignissen von 1915 und den gegenwärtigen Entwicklungen in Berg-Karabach sind nicht zu übersehen. Die wiederholte Erfahrung der Gewalt und der Versuche, eine christliche Identität zu tilgen, verdeutlicht die anhaltende Bedrohung, der die armenische Gemeinschaft ausgesetzt ist. Diese Kontinuität in der Geschichte stellt nicht nur eine Herausforderung für die Überlebenden dar, sondern erfordert auch ein verstärktes internationales Engagement zur Förderung der Menschenrechte und der Gerechtigkeit.
Fazit
Der 110. Memorial Day des Genozids ist nicht nur ein Anlass zum Gedenken, sondern auch ein Aufruf zum Handeln. Es ist entscheidend, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und die aktuelle Situation in Berg-Karabach nicht zu ignorieren. Die internationale Gemeinschaft muss sich klar gegen ethnische Säuberungen und Menschenrechtsverletzungen aussprechen und die Verantwortung für die Anerkennung des Genozids sowie den Schutz der christlichen Identität in der Region übernehmen.
Indem wir die Stimmen der Überlebenden und ihrer Nachkommen hören und die historischen Ungerechtigkeiten anerkennen, können wir dazu beitragen, eine Zukunft zu gestalten, die von Frieden, Respekt und Gerechtigkeit geprägt ist.
Martin Halef ist Vorstandsmitglied der Föderation der Aramäer in der Schweiz und Vizepräsident der Stiftung CSI-Schweiz.