Der Verein CARA (Care about ritual abuse) führt am 5. März 2020 in der Migros Klubschule St. Gallen eine Infoveranstaltung zum Thema organisierte rituelle Gewalt durch. Zu Wort kommen Stimmen aus Therapie, Politik und Polizei. Auch brechen Missbrauchsüberlebende ihr Schweigen. Zukunft CH hat mit Ruth Mauz, Präsidentin von CARA, und dem Berner EDU-Kantonsrat Samuel Kullmann über diese weithin tabuisierte Thematik gesprochen.

Frau Mauz, wie lange klärt CARA schon über rituelle Gewalt auf und wie lange beschäftigen Sie sich persönlich schon mit diesem Thema?

Ruth Mauz: CARA wurde vor gut fünf Jahren als Verein gegründet und als gemeinnützig anerkannt, aber mit dem Thema rituelle Gewalt sind wir schon seit 2010 unterwegs. Als Pfarrerin in der Landeskirche bin ich in den 1990er-Jahren zum ersten Mal einer Betroffenen begegnet. Ich reagierte zunächst mit Unglauben und Entsetzen.

Herr Kullmann, beim Infoanlass am 5. März können Sie wegen der Session im Berner Grossen Rat nicht dabei sein. Sie haben aber bei früheren Veranstaltungen von CARA gesprochen. Was war jeweils Ihre Botschaft als Politiker?

Samuel Kullmann: Der Titel meines Referats war jeweils „Gewählt, um hinzuschauen“. Ich kann gut verstehen, wenn sich jemand nicht mit dem Thema des rituellen Missbrauchs beschäftigen möchte, weil es zu krass ist. Als Politiker sollten wir uns diesen Luxus jedoch nicht erlauben. Wir sind mitverantwortlich für die Gestaltung unserer Gesellschaft und müssen unbedingt Verantwortung wahrnehmen, damit die Schwächsten geschützt werden. Ich durfte bisher an drei öffentlichen Veranstaltungen von CARA sprechen und habe in Zusammenarbeit mit CARA auch einen Mittagsanlass für Grossratsmitglieder im Kanton Bern veranstaltet.

Hat sich seit den 1990er-Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung etwas geändert. Oder ist das Tabu ungebrochen gross?

Ruth Mauz: Ich würde sagen, „es taget“! Nach wie vor hindern Nichtwissen, Unglaube und Angst den Prozess der Aufklärung, aber die Decke des Schweigens hat Risse. Betroffene wagen öffentlich zu reden. Vertreter von Therapie, Politik, Polizei und Medien äussern sich zum Thema.

Samuel Kullmann: CARA leistet sehr wertvolle und wichtige Öffentlichkeitsarbeit, auch immer mehr direkt Betroffene wagen sich, öffentlich über das zu sprechen, was sie erlebt haben. Verschiedene Bücher zum Thema erreichen einige Leute und in der Diagnostik gibt es auch Fortschritte (mehr Erkenntnisse über die komplexe posttraumatische Belastungsstörung und dissoziative Identitätsstörungen). Insgesamt befinden wir uns jedoch noch ganz am Anfang mit der Aufklärungsarbeit. Eine sehr erfreuliche Entwicklung in diesem Jahr war jedoch, dass das FBI endlich den mutmasslichen Kinderhändler Jeffrey Epstein verhaftet hat. In den letzten 20 Jahren hat Epstein wahrscheinlich mehr als 1’000 Kinder und Jugendliche an einflussreiche Politiker und Wirtschaftsleute in der ganzen Welt als Sexsklaven verkauft. Mehrere sehr glaubwürdige Aussagen von Opfern belasten z.B. Prince Andrew, Flugaufzeichnungen zeigen, dass der ehemalige US-Präsident Bill Clinton fast 30 Mal auf Epsteins Privatjet mitflog. Hierbei geht es zwar nicht unbedingt um rituellen Missbrauch, doch lassen diese Fälle erahnen, in welche kriminellen Handlungen hochrangige Politiker verstrickt sein können.

Wie unterscheidet sich ritueller Missbrauch von anderen Formen des Missbrauchs?

Ruth Mauz: Bei rituellem Missbrauch gibt es einen religiösen oder ideologischen Überbau – oft auch einfach als Tarnung. Die meisten Opfer, in der Regel Kinder, wurden und werden auch sonst schwerstens missbraucht in anderen kriminellen Bereichen: Kinderhandel, Pädokriminalität, Kinderpornografie u. a.

Warum ist es so schwierig, bezüglich rituellen Missbrauchs zu ermitteln, wenn es doch Hunderte Opfer gibt, die aussagen könnten?

Samuel Kullmann: Täterkreise setzen alles daran, dass ihre Opfer nie an einen Punkt kommen, wo sie diesen Schritt überhaupt tun könnten. Durch die extreme Traumatisierung im frühkindlichen Alter wird das Opfer in ihrer Persönlichkeit und Identität aufgespalten und regelrecht „programmiert“. Ein solches Programm kann z.B. ein suizidaler Persönlichkeitsanteil sein, der den Auftrag hat, das Opfer durch Selbstmord zum Schweigen zu bringen, wenn ihm plötzlich Erinnerungen zugänglich werden, die die Täterkreise belasten würden. Meine Einschätzung ist, dass sich die meisten Opfer von rituellem Missbrauch gar nicht bewusst sind, dass sie Opfer sind – zu sehr sind diese Erfahrungen abgespalten. Die betroffenen Menschen funktionieren im Alltag scheinbar unauffällig. In der Regel erhalten Betroffene erst durch langjährige Therapie Zugang zu Erinnerungen an den Missbrauch – und an die Täter. Diese Erinnerungen sind oft noch fragmentiert. Auf der anderen Seite stehen oftmals gesellschaftlich sehr einflussreiche und gut vernetzte Täterkreise, die alles daransetzen, unentdeckt zu bleiben.

Was sind das für Gruppierungen, die Kinder rituell missbrauchen? Satanisten?

Samuel Kullmann: Leider nicht nur Satanisten. Ritueller Missbrauch wird von verschiedenen Täterkreisen ausgeübt, dabei geht es in der Regel um Macht, Kontrolle und Geld. Auch Sekten und sogar Freikirchen und Missionswerke können von Täterkreisen unterwandert werden. Besonders anfällig dafür sind Gruppierungen, die ihre Mitglieder von der Gesellschaft isolieren und ungesunde Leiterschaftsstrukturen haben. Zu den Tätern gehören häufig sehr einflussreiche Menschen aus Schweizer Familien mit hohem Ansehen. Der Missbrauch wird typischerweise über die Jahrhunderte in den Familien an die jeweils nächste Generation übertragen.

Können Sie uns ein Erlebnis mit einem Opfer kurz schildern, dass deutlich macht, dass die Betroffenen reale Erlebnisse schildern?

Ruth Mauz: Ich habe mir Wissen von Fachleuten zum Thema angeeignet und führe seit vielen Jahren Gespräche mit Betroffenen. Nichts hat mich aber mehr von der Realität ritueller Gewalt überzeugt als Tatortbegehungen. Was ich dort an den Orten des Schreckens hörte und sah, fegte jeden Zweifel weg.

Samuel Kullmann: Ich habe kürzlich auf Facebook Fotos von einem schönen, offiziellen Ort gepostet, wohin ich für einen politischen Anlass eingeladen war. Eine Betroffene schrieb mir daraufhin, dass sie in diesen Räumlichkeiten unter anderem selbst Missbrauch erlebt hat. Inzwischen weiss ich von insgesamt fünf Betroffenen, die genau an diesem Ort Erfahrungen im Zusammenhang mit rituellem Missbrauch gemacht haben, drei von diesen Personen kenne ich persönlich. Es ist absolut krass, wie viele Opfer von rituellem Missbrauch man im eigenen Umfeld „entdeckt“, wenn man einmal anfängt sich umzuhören. Ich bin auch in einer Facebook-Gruppe, wo sich ca. 50 Betroffene austauschen. Viele Schilderungen ähneln sich und bestätigen die Aussagen von anderen.

In Deutschland scheint das Thema bereits breiter in Öffentlichkeit und Politik diskutiert zu werden?

Ruth Mauz: Das stimmt. Dadurch, dass es seit Kurzem eine bundesweite staatlich finanzierte Helpline auch für Opfer ritueller Gewalt besteht und diese – wie von sexueller Gewalt betroffene Personen – offiziell Anrecht haben auf Entschädigung aus einem durch Steuergelder finanzierten Fonds, hat das Thema ein öffentliches Gewicht. Es fällt nicht mehr so leicht die Realität ritueller Gewalt zu bestreiten!

Samuel Kullmann: Die deutsche Bundesregierung hat sich bereits 1998 zum Thema ritueller Missbrauch geäussert und eine sehr hilfreiche Definition erarbeitet. Ein Fachkreis der Bundesregierung hat im April 2018 ein umfassendes Dokument mit Empfehlungen an Politik und Gesellschaft veröffentlicht. Verschiedene Deutsche TV-Sender haben auch schon Dokus zum Thema gemacht. Dies alles ist sehr hilfreich, wenn es darum geht, die Bevölkerung aufzuklären. Es ist natürlich im Interesse von Täterkreisen, dass das ganze Thema weiterhin als „Verschwörungstheorie“ gilt und Opfer einfach Verrückte seien, die man nicht ernst zu nehmen braucht.

Gibt es in der Schweiz andere Stellen als CARA, die sich mit dem Thema auseinandersetzen?

Ruth Mauz: An erster Stelle ist die Beratungsstelle Castagna in Zürich zu erwähnen. Der Sensibilisierungsprozess erreicht aber auch Opferhilfstellen und manche polizeilichen Stellen.

Samuel Kullmann: Darüber hinaus sind verschiedene Traumatherapeuten zunehmend beruflich mit dem Thema konfrontiert. Das Interdisziplinäre Netzwerk Psychotraumatologie Schweiz (INPS) hat kürzlich eine Veranstaltung zu ritueller Gewalt organisiert. Ansonsten sind mir keine Organisationen bekannt, die sich spezifisch mit diesem Thema befassen.

Gibt es, wie in Deutschland, auch staatliche bzw. staatlich finanzierte Stellen, die sich mit rituellem Missbrauch auseinandersetzen?

Ruth Mauz: Soweit ich weiss, ist dies leider nicht der Fall.

Samuel Kullmann: Offiziell gibt es keine staatliche oder staatlich finanzierte Anlaufstelle für Opfer von rituellem Missbrauch. Bei bestehenden Stellen und Institutionen gibt es im besten Fall Mitarbeiter, die mit dem Thema vertraut sind.

Wie viele Opfer gibt es schätzungsweise in der Schweiz?

Ruth Mauz: Ich wage keine Schätzung. Die Dunkelziffer – auch unter Schweizerinnen und Schweizern – ist sicher hoch. Wenn das Phänomen an sich ganz wenig bekannt ist, werden Betroffene auch kaum wahrgenommen. Das Ursprungsleiden ist oft versteckt unter ganz verschiedenen psychiatrischen Diagnosen.

Ist das Engagement gegen rituellen Missbrauch gefährlich?

Ruth Mauz: Meiner Einschätzung nach ist die Gefahr minim. Die Täter schüchtern die Opfer ein, indem sie drohen die Helfer zu schädigen. Damit wollen sie verhindern, dass Betroffene geheime Informationen weitergeben. Ich wurde schon bedroht. Mich beeindruckt das nicht so sehr. Ich habe keine Angst vor den Täterkreisen und sollten diese ein wenig Angst haben vor mir, wäre das nicht übel.

Samuel Kullmann: Gefährlich ist es in erster Linie für Betroffene, die aussteigen möchten. Auf eine Bekannte von mir wurde auch schon ein (erfolgloser) Mordanschlag verübt. Ob ich mich selber damit in Gefahr begebe, weiss ich nicht. Meine Einschätzung ist, dass die Täterkreise bisher noch zu sicher sind und in erster Linie nicht auffallen möchten.

Gibt es eine Lektüre zum Thema, die Sie empfehlen können?

Ruth Mauz: Ich habe 2018 den Sammelband „Das Schweigen brechen“ herausgegeben. Für Interessierte gibt es einen guten Einblick.

Was läuft gegenwärtig politisch zum Thema ritueller Missbrauch?

Samuel Kullmann: Meines Wissens gab es erst im Kanton Zürich eine parlamentarische Anfrage an die Zürcher Regierung zu laufenden Ermittlungsverfahren zu rituellem Missbrauch. Ich habe selbst noch keinen Vorstoss im Berner Kantonsparlament eingereicht, weil ich den Eindruck habe, dass es zuvor noch mehr Aufklärungsarbeit braucht bevor ein politischer Vorstoss Sinn macht.