Jedes unserer Kinder ist eine Schatztruhe voller Potenzial und – teilweise noch unentdeckter – Begabungen. Das Kind dabei zu unterstützen, Schritt für Schritt zu werden, was es ist, gehört zu den ehrenvollsten, aber auch heikelsten Aufgaben, die wir als Eltern wahrnehmen können.

Von Regula Lehmann

Übereifer und Druck ist in diesem Prozess nämlich genauso schädlich wie Gleichgültigkeit oder Vernachlässigung. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn du daran ziehst“, lautet eines meiner Lieblingszitate aus meinem „Eltern-Aufsteller“*.

Allzu leicht versuchen wir, im Kind unsere eigenen Träume zu verwirklichen oder unsere persönlichen Defizite zu kompensieren. Kinder wollen es nicht „besser“ haben als wir. Es „gut“ zu haben reicht völlig und „noch mehr“ wäre in der Regel „viel zu viel“! Kinder wollen auch nicht erfolgreicher sein müssen oder in Zukunft mehr verdienen als wir es tun. Wichtig ist nur eines; dass sie sein und leben dürfen, was in ihnen angelegt ist.

Viel besser, als mit Gewalt etwas aus dem Kind herauszupressen ist es, achtsam zu begleiten und auf die Initiativen und Signale des Kindes zu reagieren. Zum Beispiel, indem Sie mit einem musikinteressierten Kind ein tolles Konzert besuchen, Ihre alte Blockflöte wieder hervorkramen oder erlauben, dass ihr Kind trotz noch ungeübter Finger ihre Gitarre ausprobieren darf. Was Kinder mehr brauchen als aufwändige Förderkonzepte und mit Frühenglisch, Ballettunterricht, Kunstturnen, Karate und Kindersingen vollgestopfte Agenden sind Räume, in denen sie unterschiedliche Dinge ausprobieren und frei experimentieren können. Dass sich daraus dann – in gesundem Mass – auch eine feste Mitgliedschaft in einem Verein oder regelmässige Musikstunden ergeben können, versteht sich von selber. Aber eben ohne übermässigen Druck und ehrgeizige Ambitionen unsererseits.

Nur bei den „langsam zu erwärmenden“, eher zurückhaltend veranlagten Kindern ist teilweise etwas mehr elterliche Initiative angesagt. Was bedeuten kann, dass wir sie für einen Kreativ-Schnupperkurs anmelden, zur Teilnahme an einem Musicallager ermutigen oder sie verpflichten, während sechs Monaten zum Unihockeytraining zu gehen. Bei manchen Typen kommt der Appetit tatsächlich erst mit dem Essen…!

Und, bitte nicht vergessen: Der ganz normale Alltag ist voller Gelegenheiten, ungeahnte Talente zu entdecken. Mit Grosspapa Fahrräder flicken oder an einem Flugobjekt herumtüfteln, bei den Nachbarn die Hundewelpen bestaunen oder während ihrer Abwesenheit die Katze und den Wellensittich versorgen. Mit auf Krankenbesuche gehen oder mit Papa zusammen am Grümpelturnier des Fussballvereins teilnehmen. Kochen mit Oma, Gartengestaltung mit der Nachbarin und mit dem „Götti“ fischen gehen. Damit Kinder werden können, wozu sie gedacht sind. Einzigartig wundervoll – Schätze eben!

* Mein Weihnachts-Geschenktipp für Eltern: Der Eltern-Aufsteller – 77 Gedanken und Zitate für Mütter, Väter und andere Helden, Fontis: www.fontis-verlag.com/buch/regula-lehmann-der-eltern-aufsteller/