Am 25. Juli 1978 wurde Louise Brown als erstes Baby nach künstlicher Befruchtung geboren. Sie ist bis heute ein Star. Die Schattenseiten der In-Vitro-Fertilisation (IVF), die mittlerweile über acht Millionen menschliche Leben hervorgebracht hat, werden hingegen selten thematisiert.

Von Dominik Lusser

Als erstes durch IVF erzeugtes Kind wurde die Britin Louise Brown anlässlich ihres 40. Geburtstags erneut wie ein Star gefeiert. „Ich habe es ja nie anders gekannt. (…) Manchmal ist es komisch, darüber nachzudenken, dass so viele Menschen weltweit meinen Namen kennen“, wird sie von FOCUS Online zitiert.

Bei der Eröffnung einer IVF-Ausstellung in einem Londoner Museum im Juli 2018 ermutigte Brown Paare, die auf natürlichem Weg kein Baby bekommen können, vor der Zeugung im Reagenzglas nicht zurückzuschrecken: „Wenn meine Mutter damals schwanger werden konnte, kann das heute jeder schaffen.“ Kritische Töne zur IVF waren im Rahmen der Berichterstattung zum IVF-Jubiläum hingegen selten zu hören. Doch sollten sie auf keinen Fall überhört werden.

Der britische IVF-Pionier Lord Robert Winston erklärte am 11. Juli 2018 gegenüber The Irish News, Menschen würden „in die IVF hineingezogen“, ohne zu erfahren, wie „niedrig die Erfolgsraten“ seien. Der IVF-Markt sei zu einem Geschäft geworden. Private Wunschbabykliniken würden regelrecht „absahnen“, so der emeritierte Professor für Fertilitätsstudien am Imperial College London. Die „Verzweiflung“ unfruchtbarer Paare kombiniert mit der „Gier“ privater Praxen ergebe eine „gefährliche Mischung“. Anlässlich des 40. Geburtstags von Louise Brown mahnte Winston zu selbstkritischer Reflexion sowie zu mehr Transparenz in der Branche.

Nur der finanzielle Erfolg ist garantiert

So etwa registriere der Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA) die Erfolgsrate pro Embryotransfer. Dies sei aber irreführend, da es bei vielen Frauen, die einen Behandlungszyklus beginnen, gar nie zum Embryonentransfer kommen würde, „weil ihre Eierstöcke nicht reagieren oder weil sich die Eizellen nicht befruchten lassen.“ Solche Fehlversuche würden einfach aus der Statistik genommen und diese damit verzerrt. Die Wahrheit sei, dass die Chance, in einem IVF-Zyklus in Grossbritannien schwanger zu werden, immer noch bei nur 21 Prozent liege. Auch manche Schweizer Fertilitätskliniken geben auf ihren Internetseiten je nach Alter der Frau Erfolgschancen von 50 bis sogar über 60 Prozent an, wobei nicht nachvollziehbar ist, wie diese extrem hohen Erfolgsraten ermittelt werden. Andere Schweizer Kliniken machen hingegen Angaben in der Grössenordnung, wie Winston sie für realistisch hält.

Ein erhebliches Problem im Umgang mit Unfruchtbarkeit liegt laut Winston darin, dass sie „50, 60 oder 70 verschiedene Ursachen“ haben kann. Für einige dieser Ursachen gebe es auch wesentlich weniger invasive Behandlungen als eine IVF. Diese sei „in vielen Fällen nicht die beste Behandlung – aber die profitabelste.“

Gesundheitliche Langzeitschäden

Auf einen ganz anderen problematischen Aspekt der IVF machte kürzlich die Theologin Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin des Zürcher Instituts „Dialog Ethik“ aufmerksam (Newsletter, August 2018): Wie neueste Untersuchungen an durch IVF gezeugten jungen Erwachsenen zeigen (Théo A. Meister et al., 2018 in press), weisen diese vermehrt Bluthochdruck und vorzeitig gealterte Blutgefässe auf. Man vermute, so Baumann-Hölzle, dass die verwendete Nährlösung zu epigenetischen Veränderungen bei den so gezeugten Embryonen führe und so diese gesundheitlichen Schädigungen hervorrufen könne. Die Frage, wer für solche gesundheitlichen Spätfolgen die Verantwortung trägt, ist für die Theologin nicht einfach mit der Entschuldigung beantwortet, „man habe das damals einfach nicht gewusst.“

Schon in einer 2016 veröffentlichen Studie hatten niederländische Forscher einen eindeutigen Zusammenhang zwischen einer handelsüblichen IVF-Nährflüssigkeit und einem niedrigen Geburtsgewicht festgestellt. Dies ist darum alarmierend, weil man heute weiss, dass kleine Unterschiede im Geburtsgewicht subtile Störungen widerspiegeln können, die sich erst später im Leben manifestieren. „Das bedeutet, dass wir vorsichtig sein müssen. Wir sollten nicht mehr blind neue Kulturmedien übernehmen oder andere Veränderungen im Labor- oder in klinischen Verfahren, ohne zunächst rigoros deren Wirksamkeit und Sicherheit geprüft zu haben“, schreiben die Wissenschaftler. Dies alles zeigt, dass auch mit den gängigen IVF-Verfahren schwerwiegende, im Voraus schwer abschätzbare Folgen verbunden sein können.

Bruch mit zentralen ethischen Massstäben

Die Frage der Verantwortung für mögliche gesundheitliche Risiken, die mit der Zeugung im Reagenzglas blind in Kauf genommen werden, ist aber bei weitem nicht das einzige ethische Problem, vor das uns die IVF stellt. „Die extrakorporale Befruchtung im Reagenzglas bricht auf subtile Weise zentrale ethische Massstäbe“, schreibt Susanne Kummer, Leiterin des Wiener Instituts für medizinische Anthropologie und Bioethik IMABE in ihrer lesenswerten Übersicht über 40 Jahre Reproduktionsmedizin unter dem Titel „Leben aus dem Labor“. Mit Verweis auf den Medizinethiker Giovanni Maio zeigt die Bioethikerin, wie durch die Reproduktionsmedizin drei Logikansätze aufgezwungen würden, die der Ethik der menschlich-personalen Weitergabe des Lebens entgegengesetzt seien. Maio spreche von der „Logik des Herstellens“, der „Logik der Entpersonalisierung“ und der „Logik der Modularisierung“.

Demnach macht es ethisch einen Unterschied, ob ein Kind durch die Vereinigung von Mann und Frau gezeugt wird oder ob dieses Kind durch technisches Handeln „hergestellt“ wird. Ein natürlich gezeugtes Kind ist laut Kummer „immer mehr als bloss ein Produkt des Wollens und Tuns seiner Eltern: Es kann gewünscht oder nicht gewünscht, ‚geplant‘ sein, doch selbst dann ‚passiert‘ die Empfängnis als unverfügbarer Akt.“ Die Logik des „Herstellens“ verleite hingegen dazu, auch die Subjekthaftigkeit des Kindes zu relativieren: „Der Embryo in der Petrischale mutiert immer mehr zu einem Objekt, zur produzierbaren Sache, er ist nicht mehr jemand, sondern etwas.“

Damit ist auf theoretischer Ebene exakt beschrieben, was gegenwärtig in der Schweiz konkret umgesetzt wird. Seit Inkrafttreten des neuen Fortpflanzungsmedizingesetzes am 1. September 2017 dürfen hierzulande pro IVF-Behandlungszyklus neu bis zu zwölf statt bisher drei Embryonen entwickelt werden. Dadurch entsteht eine immense Anzahl sogenannter „überzähliger“ menschlicher Embryonen, die, so bestimmt das neue Gesetz, anschliessend eingefroren und spätestens nach Ablauf einer gesetzlich festgelegt (z.B. durch Verwendung zu Forschungszwecken) vernichtet werden müssen.

Gnadenloser Optimierungswahn

Schliesslich werden, so Kummer, durch die Reproduktionsmedizin auch Bedingungen daran gestellt, wie ein Mensch sein soll. Es gilt nicht mehr uneingeschränkt die Devise: „Es ist gut, dass es dich gibt, weil es dich gibt“. Nicht nur die Existenz, sondern auch die „Qualität“ des Kindes müssten im Zuge der Logik des Herstellens den Wünschen und Ansprüchen entsprechen, erläutert Kummer. Das Lebensrecht stehe dem Embryo somit nicht mehr bedingungslos zu, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen, die Dritte bestimmten.

Genau diese innere Logik der künstlichen Reproduktion zeigt sich auch im neuen Schweizer Fortpflanzungsmedizingesetz. Diesem gemäss dürfen sämtliche Paare, die eine IVF in Anspruch nehmen, ihre Embryonen auf Chromosomenanomalien untersuchen und entsprechend aussortieren lassen.

Der deutsche Sozialethiker Manfred Spieker bringt die fatale Schieflage auf den Punkt, auf die sich die Medizin vor 40 Jahren mit der Geburt des ersten IVF-Kindes eingelassen hat: „Der Weg vom zertifizierten Qualitätsmanagement des reproduktionsmedizinischen Zentrums zum Qualitätsmanagement seines Produkts ist konsequent. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist die logische Konsequenz der In-Vitro-Fertilisation, und die Genmanipulation ist die logische Konsequenz der Präimplantationsdiagnostik.“

Es ist höchste Zeit, sich um einen menschenwürdigen Umgang mit dem zweifellos schweren Los der ungewollten Kinderlosigkeit zu bemühen.