„Totgesagte leben länger.“ Das gilt auch für den seit dem Mauerfall totgeglaubten Marxismus. Wie das Gespenst des Kulturmarxismus und dessen postmoderne Abwandlungen auch 100 Jahre nach der Oktoberrevolution die Fundamente unserer Gesellschaft zu erschüttern suchen, zeigt exemplarisch das neue Feminismus-Manifest der Schweizer Sozialdemokratinnen.

Von Dominik Lusser

„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“. So beginnt das 1848 veröffentlichte „Kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Am 7. November vor 100 Jahren brach in Russland die bolschewistische Oktoberrevolution aus, welche die erste politische Umsetzung marxistischer Theorien mit sich brachte – mit den bekannten desaströsen Folgen für die betroffenen Völker. Am 3. November feiern die Schweizer Sozialdemokratinnen (SP Frauen Schweiz) ihr 100-jähriges Bestehen. Doch diese scheinen noch immer vom marxistischen Gespenst umhergetrieben zu sein, wie das „Manifest für eine konsequent feministische Sozialdemokratie“ deutlich zeigt.

Anthropologische Revolution

Der Kommunismus als Wirtschaftssystem hat spätestens 1989 jede Glaubwürdigkeit eingebüsst. Marx und Engels lehrten jedoch nicht nur die Verstaatlichung von Eigentum und Produktion, sondern auch eine damit eng verknüpfte „anthropologische Revolution“, wie der ehemalige slowakische Innenminister Vladimír Palko betont. Wie damals die russischen Bolschewiken, kämpfen heute feministische Strömungen und Gender-Ideologen gegen die natürliche Familie und die ihr zugrundeliegende Geschlechterordnung.

Laut dem „Kommunistischen Manifest“ sollte der „neue Mensch“ der klassenlosen Gesellschaft von familiären Bindungen gänzlich befreit sein. Befreit, um sich vollständig in den Dienst des alles bestimmenden Arbeiterstaates zu stellen: „Geschlechts- und Altersunterschiede haben keine gesellschaftliche Geltung mehr. Es gibt nur noch Arbeitsinstrumente, die (…) verschiedene Kosten machen.“ Über dieses reduktionistische Menschenbild scheint der verbissene Gleichstellungskampf des westlichen Feminismus bis heute nicht hinausgekommen zu sein.

So fordern die SP-Frauen in ihrem Feminismus-Manifest die Einführung der 35-Stundenwoche, allerdings mit einem entscheidenden Hintergedanken: Um trotz kürzerer Arbeitszeit die volkswirtschaftliche Gesamtarbeit auf gleichem Niveau zu halten, sollen sich Frauen und Männer „praktisch vollständig am Arbeitsmarkt beteiligen“; also auch Mütter, die lieber zuhause ihre Kinder betreuen würden. Die vermeintliche Befreiung von der Arbeit entpuppt sich so als Massnahme in Richtung kollektiven Arbeitszwang. Diese Forderung ergibt sich aus dem alles dominierenden Ziel der SP-Frauen, jede erwachsene Person durch Erwerbsarbeit ökonomisch unabhängig zu machen. Ehe und Familie würden so, wie schon Marx dies forderte, als Wirtschaftseinheit beseitigt und der Weg zur totalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche wäre frei.

Der angestrebte „radikale Wandel von Arbeit und Erwerb“ soll angeblich „Geschlechterungerechtigkeiten im Privaten“ beseitigen, indem er Paare dazu drängt, die sogenannte Care-Arbeit gleichmässig aufzuteilen. Die geforderten 50 Wochen Elternzeit „müssen“ dementsprechend je hälftig bezogen werden. Dem kommunistischen Hirngespinst eines Geschlechterkampfes, bei dem sich letztlich alles nur um Geld und Macht dreht, werden sogar die intimsten menschlichen Beziehungen (Marx: „die trautesten Verhältnisse“) geopfert: Die „emotionale Zuwendung“ zum eigenen Kind wird auf eine soziale Funktion (auf Care-Arbeit) reduziert, die ebenso gut durch Krippenpersonal geleistet werden kann. Kita-Profis sind – wie man zwischen den Zeilen liest – unter Umständen gar vorzuziehen, da diese im Unterschied zur „ausgebeuteten“ Mutter bezahlt werden und auf diese Weise die Arbeitskraft der beruflich gut qualifizierten Mutter anderweitig eingesetzt werden kann. Schliesslich sei es ja, so die SP-Frauen, „volkswirtschaftlich problematisch, wenn gut gebildete Frauen von der Erwerbsarbeit fernbleiben“.

Marx, der „Vernichter”

Eine Politik, die alles, was gratis und aus Liebe gemacht wird, unter Verdacht stellt, ist nicht wirklich sozial, weil sie damit am Glück des Menschen vorbei zielt. Doch um soziale Reformen, um die Lösung konkreter Nöte der Arbeiterschaft war es auch Marx nie gegangen. Marx war ein Revolutionär, der nichts weniger als den Umsturz der bürgerlich-christlichen Kultur seiner Zeit anstrebte. Dass ausgerechnet Frauen heute noch glauben, dass marxistisch inspirierte Theorie und Praxis ihre Probleme lösen könnten, entbehrt nicht der Tragik. Marx war ein radikaler Materialist, der den Menschen konsequent dem Prinzip sozioökonomischer Nützlichkeit unterwarf. Passend dazu hatte er (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844) für die erste Phase der Umsetzung des Kommunismus, die er den “rohen Kommunismus” nannte, und über den kein marxistisches Experiment bisher je hinausgekommen ist, die Herrschaft der Habsucht und des Neides vorhergesagt: Alles, was nicht von allen besessen werden kann, wird zerstört und die „Persönlichkeit (…) überall negiert“ werden. Die Frau wird in dieser Phase von der Einzelehe – die Marx für eine Form der Prostitution hält – in die „allgemeine Prostitution“ der „Weibergemeinschaft“ überführt.

Seit der Oktoberrevolution beteiligen sich Feministinnen an der bei Marx grundgelegten Entmenschlichung der Sexualität: Damals forderte Alexandra Kollontai die freie Liebe, d.h. die Trennung von Sexualität und fester Bindung. Heute fordern die SP-Frauen „Raum für alternative Sexualitäten (…), die nicht dem klassischen heterosexuellen Bild“ entsprechen. Die Pornoindustrie wird nicht etwa bekämpft: Vielmehr brauche es Reglemente für „faire Produktion“ sowie die Darstellung verschiedener Sexualitäten, als ob Pornografie (d.h. die Reduzierung von Frauen und Männern zu Sex-Objekten) nicht per se der Würde des Menschen widerspräche. Hier ist die marxistische Tradition erkennbar, die seit jeher auf die gesellschaftszersetzende Kraft der Sexualität setzt.

Marx und Engels haben den Libido entfesselt, um der bürgerlichen Gesellschaft den Garaus zu machen: Da die „Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechtsliebe” sehr verschieden sein könne, solle man es den Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozesses zu waten, hatte Engels gefordert. Heute setzen sich die SP-Frauen für die Etablierung immer unverbindlicherer Beziehungsformen wie den „pacte civil de solidarité“ ein, weil er zwar rechtliche (d.h. rein materielle) Sicherheit bietet, aber leichter auflösbar ist als die Ehe.

Geschlecht, Opium des Volkes

Die verstaubten Theorien des „Vernichters“, wie Marx an der Universität genannt wurde, sollten längst auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt sein. Doch davon ist bei den SP-Frauen auch 100 Jahre nach der Oktoberrevolution nichts zu spüren. Stark beeinflusst vom postmodernen Dekonstruktivismus, der nicht nur einen Gegensatz zum orthodoxen Marxismus darstellt, sondern auch eine Weiterführung und Radikalisierung marxistischer Gesellschaftskritik, haben die SP-Frauen ihren Namen letztes Jahr um ein Sternchen erweitert. Mit dem Gendersternchen nach Geschlechtsnennungen wollen die „SP Frauen* Schweiz“ auf die  „Konstruiertheit“ von Geschlechterkategorien hinweisen: „Mann“ und „Frau“ seien – wie es im Feminismus-Manifest heisst – keine naturgegebenen, starren und unmissverständlichen Kategorien, sondern zwei Konstrukte, die jeweils eine grosse Vielfalt an Identitäten umfassten. Das Sternchen mache darauf aufmerksam, dass unser Denken über diese binären Konstrukte hinausgehen müsse.

Durch die „Zerstörung der kleinbürgerlichen wirtschaftlichen Familieneinheit“ sowie der „Einführung vergesellschafteter Essenszubereitung und Erziehung“ werde die Frau aus ihrer Unterdrückung befreit, war Lenins rechte Hand Leo Trotzki überzeugt. Die postmoderne Kulturkritik geht noch einen Schritt weiter: Frauen würden nicht nur durch die ihnen zugedachte soziale Rolle diskriminiert, sondern auch dadurch, dass sie Frauen zu sein hätten. Im Zentrum der Kritik steht somit nicht mehr nur die Ehe als Lebensgemeinschaft, sondern die Geschlechtsidentität von Mann und Frau als deren Grundlage überhaupt. „Das Geschlecht, nicht die Religion“, sei „das Opium des Volkes“, sagte der kanadische Soziologe Erving Goffman (1922-1982) in Anspielung an Marx Religionskritik.

Um aber das Geschlecht als Kategorie der Unterdrückung aus der Welt schaffen zu können, musste zunächst dessen Konstruiertheit behauptet werden. So erfanden linke Intellektuelle in den 1950er-Jahren den Gender-Begriff. Heute bauen die SP-Frauen ihre ganze Politik darauf auf: Weder auf der sozialen noch auf der biologischen Ebene entspreche die Geschlechterbinarität der Realität, schreiben die SP-Frauen. Soziokulturell sei längst klar, dass „‚gender‘ kein gottgegebener Fakt, sondern eine Mischung aus Kultur und subjektivem Identitätsleben“ sei. Auch auf der biologischen Ebene greife die binäre Einteilung zu kurz.

Damit meinen die SP-Frauen, der Unterdrückung der „Frau“ (die es ja dann eigentlich gar nicht gibt) die letzte Basis entziehen zu können: „Eine Ideologie, welche die Unterdrückung, Ausbeutung und Geringschätzung von Weiblichkeit* reproduziert, basiert auf einem unüberwindbaren Unterschied zwischen den Geschlechtern.“ Wären die Geschlechter „gleichwertig oder gar fluid“, wäre – so die marxistische Utopie des 21. Jahrhunderts – eine sexistische Trennung nicht mehr möglich. Doch die Binarität werde uns „in der Gesellschaft überall vermittelt: Von Kinderspielzeug über Toiletten bis hin zu unserem Pass.“ Alles müsse in Mann* und Frau* einteilbar sein.

Wie unterkomplex diese Theorie ist, zeigt sich unter anderem darin, dass sexuelle Gewalt und jede andere Form von Ausbeutung überall vorkommen kann und die Trennlinie zwischen Tätern und Opfern nicht streng entlang der Geschlechtergrenzen verläuft. Gerade die stark tabuisierte Gewalt in lesbischen Beziehungen sollte den queer-feministischen SP-Frauen zu denken geben.

Postmoderner Marxismus

Diese müssten sich ernsthaft der Frage stellen, inwiefern eine Theorie, welche die Identität der Frau per se leugnet und so der Frauenbewegung das Subjekt unter den Füssen weg dekonstruiert hat, ein Engagement für die tatsächlichen Bedürfnisse von Frauen überhaupt zulässt. Die These der Basler Gender-Professorin Andrea Maihofer, wonach die „Frau“ immer nur „situatives“, d.h. jeweils vorläufiges „Resultat feministischer Politik“ sein soll, wird wahrhaft kritischen Frauen, die ihre Weiblichkeit schätzen, eher suspekt vorkommen.

Allerdings kann, wie die Kulturphilosophin Marguerite A. Peeters in ihren Untersuchungen zeigt, die Gender-Ideologie nur als Teil einer viel umfassenderen Agenda richtig verstanden  und in ihrer Tragweite eingeschätzt werden. Die neomarxistisch inspirierte radikale Kulturkritik des Postmodernismus hat sich die Dekonstruktion der gesamten abendländischen Kultur auf die Fahnen geschrieben. Aus der Kritik des französischen Philosophen Jacques Derrida am Binarismus der europäischen Zivilisation folgt die Dekonstruktion „unterdrückerischer Hierarchien“ wie der Gegensatzpaare Mann-Frau oder heterosexuell-homosexuell; aber auch die Auflösung von Gegensätzen wie Mensch-Tier, westlich-nicht westlich, eigen-fremd oder weiss-nicht weiss: Frauen, Nicht-Weisse, Fremde, Angehörige sexueller Minderheiten, Tiere usw. dienen der postmodernistischen Linken als Ersatzproletariate.

So intellektuell anspruchsvoll die Theorien von Jacques Derrida und Judith Butler, die im Anschluss an die „French Theory“ (de Beauvoir, Foucault, Derrida, usw.) ihre radikale Gender-Theorie entwickelte, sein mögen, so wenig brauchbar sind sie für die Lösung konkreter gesellschaftlicher Probleme. Die Komplexität dieser Theorien liegt – wie mir scheint – oftmals im rein Gedanklichen und Sprachlichen, während die Komplexität des Realen davon kaum adäquat erfasst wird. Nicht umsonst sind Derridas Gedankenspielereien in den 1980er-Jahren von renommierten Kriterien als dadaistische Experimente bezeichnet worden. In ihrer vulgarisierten Form sind Butlers und Derridas Theorien auch im Feminismus-Manifest der SP-Frauen anzutreffen:

„Während die meisten Menschen zur Sicherung ihrer Existenz ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen müssen, gibt es einige wenige, welche Eigentum besitzen und davon leben können“, beklagen die SP-Frauen. Diese beiden gesellschaftlichen Gruppen hätten entgegengesetzte Interessen, zwischen denen es, wie suggeriert wird, keine Versöhnung geben könne. Soweit die klassisch marxistische Theorie. Dieser Konflikt finde aber, wie die SP-Frauen fortfahren, nicht im luftleeren Raum statt, sondern innerhalb einer Gesellschaft, in welcher zum Beispiel zwischen biologischen Geschlechtern und zwischen Menschen verschiedener Haut- und Passfarben unterschieden werde. „Solche gesellschaftlichen Trennlinien erzeugen Machtgefälle, die im allgemeinen Konflikt zwischen den Vielen und den Wenigen zum Tragen kommen.“ Die historische Benachteiligung der Frauen*, der Nicht-Weissen und natürlich besonders der nicht-weissen Frauen* würden durch diese Konstellation immer weiter reproduziert und die Arbeitskraft der Frauen* mehrfach ausgebeutet.

Irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass im ganzen Feminismus-Manifest beispielsweise kein Wort über den Islam bzw. über Migranten aus islamischen Ländern verloren wird, obwohl deren Umgang mit Frauen feministischen Forderungen und Ansprüchen teilweise diametral entgegenläuft. Dies zu bedenken würde, obwohl sehr realistisch, die Opfer-Täter-Schematik des modernen Klassenkampfes entscheidend durchkreuzen. Mit der Versteifung auf unversöhnliche, oft konstruierte Gegensätze, die in der marxistisch-dekonstruktivistischen Theorie zu Bergen aufgebaut werden, löst man jedoch keine Probleme. Vielmehr schürt man Neid, Missgunst und Vorurteile – und schafft Vorwände, um die bestehenden Verhältnisse radikal umstürzen zu können. Explizit darauf zielt der vermeintlich totgeglaubte Geist des Marxismus.

Neue Internationale

Als Anfang der 1990er-Jahre das Ende des Kommunismus feststand, wandte sich Derrida in seinem Werk „Marx’ Gespenster“ (Original: Spectres de Marx, 1993) gegen den herrschenden Diskurs vom Ende des Marxismus. Das Gespenst, das in der Welt seit 1848 umgehe, sei und bleibe die Möglichkeit einer grundlegend anderen Zukunft, die – wie der Messias – immer noch erst kommen müsse. Alle Menschen seien heute Erben der absoluten Einzigartigkeit des marxistischen Versprechens eines neuen Begriffs vom Menschen, von der Gesellschaft, von der Wirtschaft, der Nation, usw. – eines „Messianismus ohne Gott“. Das Erbe des Marxismus anzunehmen aber bedeute, dem treu zu bleiben, was aus dem Marxismus „immer zuerst eine radikale Kritik gemacht“ habe.

Derrida fordert auch eine „neue Internationale“ als eine Allianz jener, die sich „weiterhin von wenigstens einem der Geister Marx’ oder des Marxismus inspirieren“ liessen. Auch wenn diese Allianz nicht mehr die Gestalt der Partei oder der Arbeiterinternationale annehme, sondern die einer Art Gegen-Verschwörung (gegen das nach dem Ende der Sowjetunion proklamierte Ende der Geschichte), ginge es in der durch diese Allianz angestrebten Kritik des internationalen Rechts, der Begriffe von Staat und Nation usw. doch darum, die marxistische „Kritik zu erneuern und um sie vor allem zu radikalisieren“.

Dass inzwischen UNO und EU nach Einschätzung von Vladimír Palko in mancher Hinsicht zu Werkzeugen in den Händen dieser neuen Internationalen geworden sind, wird immer deutlicher. Die SP-Frauen sehen sich durch den zum Zeitgeist gewordenen Kulturmarxismus bestätigt, dem sich heute selbst bürgerliche Parteien immer weniger zu entziehen vermögen bzw. wagen. 100 Jahre nach dem roten Oktober treiben Marx’ Gespenster mehr denn je ihr Unwesen. Dass wir auch im 21. Jahrhundert auf weitere von Marx inspirierte Tragödien zusteuern, wird immer wahrscheinlicher.

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Mehr zu diesem brandaktuellen Thema in der Sonderausgabe des Magazins „Zukunft CH“: „Die marxistische Kulturrevolution und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart – 1917-2017: Von der Oktoberrevolution zur Gender-Agenda der UNO“. Bestellung unter: http://www.zukunft-ch.ch/de/publikationen/magazin/