Laut dem deutschen Kinderpsychiater und Bestsellerautor Michael Winterhoff gibt es in unseren Schulen bald nur noch auffällige und schwer gestörte Kinder. Zumindest ortet er in einem Interview mit dem „Beobachter“ schwere Probleme der Lehrkräfte – nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit deren Eltern. Was ist los, und wie beurteilt ein Schweizer Praktiker, der langjährige Oberstufenlehrer, EVP-Politiker und Bildungsexperte Hanspeter Amstutz, im Interview mit der Schweizerischen Stiftung für die Familie die Situation?

Hans­pe­ter Am­stutz, wol­len heu­ti­ge Kin­der nicht mehr ge­hor­sam sein?

Hans­pe­ter Am­stutz: Der Kin­der­arzt und Er­folgs­au­tor Remo Largo be­schreibt es tref­fend: Kin­der su­chen eine enge Be­zie­hung mit einem oder meh­re­ren Er­wach­se­nen. Sie su­chen pri­mär nicht den Kon­flikt, son­dern die Nähe und möch­ten einem er­wach­se­nen Men­schen wenn immer mög­lich Ge­hor­sam leis­ten. Heute pfle­gen aber man­che El­tern eine blin­de Liebe zu ihrem Kind, doch das ent­spricht der kind­li­chen Natur ei­gent­lich nicht. Diese El­tern wagen es kaum noch, von ihrem Kind die Ein­hal­tung ein­fachs­ter Re­geln zu ver­lan­gen. Ge­hor­sam müsse bei einem Kind nicht au­to­ri­tär durch­ge­setzt wer­den, viel­mehr sei Ge­hor­sam dem Kind ei­gent­lich ein Be­dürf­nis, be­tont Remo Largo. Die Kin­der su­chen die Liebe er­wach­se­ner Be­zugs­per­so­nen zu ge­win­nen. Er­zie­hung ist Be­zie­hung. Dass es hier ein Ge­fäl­le zwi­schen Er­wach­se­nen und Kin­dern gibt, ist na­tür­lich. Das setzt auch eine ge­wis­se Dis­tanz zwi­schen Er­wach­se­nem und Kind vor­aus. Diese fehlt heute oft, wie auch Win­ter­hoff be­ob­ach­tet. Ver­un­si­cher­te El­tern nei­gen oft dazu, sich bei ihrem Kind an­zu­bie­dern. So er­staunt nicht, dass bei Pro­ble­men in der Schu­le in vie­len Fäl­len zu­erst die Ar­beit bei den El­tern be­gin­nen muss. Wenn Kin­der ihre El­tern nicht als ech­tes Ge­gen­über er­ken­nen, sind diese kaum in der Lage, das Kind al­ters­ge­mäss zu füh­ren.

Was hat die neue Ent­wick­lung ver­ur­sacht?

Viele mo­der­ne Ent­wick­lun­gen hän­gen auch mit der Di­gi­ta­li­sie­rung und den neuen Me­di­en zu­sam­men. Wenn El­tern das Ver­trau­en in ihre ei­ge­ne Er­zie­hungs­kom­pe­tenz fehlt, so­li­da­ri­sie­ren Sie sich un­re­flek­tiert mit ihrem Kind und er­füll­ten ihm fast jeden Wunsch. Stun­den­lan­ges Gamen oder Chat­ten im In­ter­net wird to­le­riert, nur um ja keine Frus­tra­tio­nen zu pro­vo­zie­ren. Diese er­zie­he­ri­sche Ein­stel­lung führt un­wei­ger­lich zu Kon­flik­ten mit der Schu­le. Sinn­vol­le er­zie­he­ri­sche Rat­schlä­ge der Lehr­per­so­nen wer­den zu­rück­ge­wie­sen, weil diese El­tern nicht mehr an das Ge­lin­gen in der Er­zie­hung glau­ben. Um den El­tern wie­der Mut zu ma­chen, hat der Zür­cher Lehr­mit­tel­ver­lag eine Bro­schü­re zum Um­gang mit den neuen Me­di­en her­aus­ge­ge­ben. Das ist si­cher eine gute Sache, doch damit ist das Pro­blem noch nicht ge­löst.

Was braucht es dazu?

Viele Bil­dungs­fach­leu­te sind über­zeugt, der neue Lehr­plan 21 ver­mitt­le mit dem neuen Fach Me­di­en­kun­de einen ver­nünf­ti­gen Um­gang mit den neuen Me­di­en. Das Zau­ber­wort heisst di­gi­ta­le Kom­pe­tenz. Mit einem schu­li­schen Pro­gramm soll un­se­re Ju­gend ler­nen, der di­gi­ta­len Her­aus­for­de­rung ge­wach­sen zu sein. Doch er­zie­he­ri­sche Auf­ga­ben, die eine el­ter­li­che Füh­rungs­funk­ti­on vor­aus­set­zen, kön­nen nicht ein­fach in vol­lem Um­fang an die Schu­le de­le­giert wer­den.

Ge­ne­rell scheint bei den Schöp­fern des neuen Lehr­plans der Glau­be vor­zu­herr­schen, un­se­re Ju­gend werde sich pri­mär auf­grund mess­ba­rer Out­put-Zie­le in die rich­ti­ge Rich­tung ent­wi­ckeln. Doch diese auf den Thron ge­ho­be­ne Hilfs­funk­ti­on ist noch lange keine Päd­ago­gik. Bil­dungs­er­folg hat sehr viel mit einer guten Be­zie­hung des Kin­des zu einer en­ga­gier­ten Lehr­per­son zu tun. Nach­hal­ti­ge Päd­ago­gik braucht aus­rei­chend Zeit und eine ge­wis­se Musse. Lei­der ist der Lehr­plan 21 weit davon ent­fernt. Er bie­tet statt­des­sen in jedem Fach ein um­fang­rei­ches Bil­dungs­pro­gramm an, das strikt zu be­fol­gen ist, um die hoch ge­steck­ten Lern­zie­le zu er­rei­chen. Die­ses eng­ma­schi­ge Kon­zept ist für päd­ago­gi­sche Hö­hen­flü­ge ganz si­cher nicht ge­eig­net.

Sind die Lehr­plan-Ma­cher zu weit von der Pra­xis weg?

Die Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­len hat­ten ein gros­ses In­ter­es­se am Lehr­plan, weil sie in der damit ver­bun­de­nen Schul­ent­wick­lung eine gros­se Zu­kunft für ihre For­schungs­auf­trä­ge sahen. For­schung spielt heute an den PH eine gros­se Rolle. Zü­rich woll­te zum Bei­spiel be­wei­sen, wie mit Früh­eng­lisch Er­fol­ge zu er­zie­len sind. Teams von Wis­sen­schaf­tern er­ar­bei­te­ten dazu die Lehr­mit­tel, die dann schon im ers­ten Pra­xis­ein­satz total schei­ter­ten und über­ar­bei­tet wer­den muss­ten. Oft sind die glei­chen Leute, wel­che For­schun­gen an den PH be­trei­ben, auch Lehr­mit­tel­au­to­ren. In den gros­sen Kan­to­nen haben wir auch eine grös­se­re Zahl von Bil­dungs­wis­sen­schaf­tern, die im Auf­trag der Er­zie­hungs­di­rek­tio­nen Schul­ent­wick­lung be­trei­ben. Die Er­zie­hungs­wis­sen­schaf­ter aus bei­den Be­rei­chen bil­de­ten zu­sam­men den engs­ten Kreis, der den neuen Lehr­plan er­stell­te. Noch bevor die Lehr­kräf­te bei­ge­zo­gen wur­den, hatte die­ses Steue­rungs­team schon ent­schie­den, dass der neue Lehr­plan kom­pe­tenz­ori­en­tiert sein und ein de­tail­lier­tes Bil­dungs­pro­gramm ent­hal­ten müsse. Die Lehr­per­so­nen hat­ten bei die­ser zen­tra­len Wei­chen­stel­lung keine Mit­spra­che. Lehr­per­so­nen aus der Schul­pra­xis waren erst dabei, als es um die kon­kre­te Aus­ge­stal­tung des Lehr­plans ging. Doch ihr Ein­fluss auf das um­fang­rei­che Werk war be­grenzt, da klare Vor­ga­ben be­stan­den. So er­staunt es nicht, dass ein Lehr­plan ent­stand, der ziem­lich weit von der Schul­pra­xis ent­fernt ist.

Wie konn­te es dazu kom­men?

Er­schwe­rend kommt hinzu, dass die Er­zie­hungs­wis­sen­schaf­ten stark aka­de­mi­siert wur­den. Mit der Bo­lo­gna-Re­form haben die al­ler­meis­ten Fach­di­dak­ti­ker mit ak­ti­ver Un­ter­richt­s­tä­tig­keit auf der Volks­schu­le ihren Auf­trag an den Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­len auf­ge­ben müs­sen. Diese ge­schätz­ten Fach­di­dak­ti­ker wur­den zum gröss­ten Tiel durch Uni­ver­si­täts­ab­sol­ven­ten ohne di­rek­ten Bezug zur Volks­schu­le er­setzt. Als Folge die­ser Ent­wick­lung kamen die meis­ten Au­to­ren des neuen Lehr­plans aus dem rein aka­de­mi­schen Be­reich. Für die Kon­zep­ti­on eines über­zeu­gen­den Lehr­plans hätte eine aus­ge­wo­ge­ne­re Zu­sam­men­set­zung der Steue­rungs­grup­pe zwei­fel­los ei­ni­ges bei­tra­gen kön­nen.

Wie dra­ma­tisch ist die Lage heute wirk­lich?

Die Si­tua­ti­on in den Klas­sen ist recht un­ter­schied­lich. In den vor­städ­ti­schen Ge­bie­ten gibt es zah­len­mäs­sig mehr Pro­ble­me mit auf­fäl­li­gen Schü­lern und stark ver­un­si­cher­ten El­tern. Allzu rasch füh­len sich diese be­drängt, wenn die Leh­re­rin über ein Pro­blem mit ihrem Kind spre­chen will. Die Wahr­schein­lich­keit ist gross, dass El­tern in un­er­freu­li­chen Si­tua­tio­nen mit einer Schuld­zu­wei­sung an die Schu­le re­agie­ren. Und schon be­ginnt die Mühle zu lau­fen. Der Bei­zug von Heil­päd­ago­gin­nen, Schul­psy­cho­lo­gen und Fach­leh­rern führt zu zeit­rau­ben­den Kon­fe­ren­zen mit allen Be­tei­lig­ten. Lei­der wer­den not­wen­di­ge Mass­nah­men längst nicht von allen Schul­lei­tun­gen be­din­gungs­los un­ter­stützt, wenn die El­tern un­ein­sich­tig blei­ben. So gibt es Klas­sen, die wäh­rend der gan­zen Schul­zeit Pro­ble­me be­rei­ten, weil ein­zel­ne ver­hal­tens­auf­fäl­li­ge Kin­der nie ent­schei­dend in die Schran­ken ge­wie­sen wur­den.

Wie sol­len Leh­rer damit klar kom­men?

Es gibt viele gute Leh­re­rin­nen und Leh­rer, die sich auch in sol­chen Klas­sen durch­set­zen kön­nen, aber der Preis für die­ses En­ga­ge­ment ist hoch. Was ein­zel­nen Kin­dern an spe­zi­el­ler Zu­wen­dung durch die Lehr­per­son zu­kommt, geht aus zeit­li­chen Grün­den bei an­dern ver­lo­ren. Oft sind frisch aus­ge­bil­de­te junge Leh­re­rin­nen und Leh­rer mit stark ver­hal­tens­auf­fäl­li­gen Schü­lern über­for­dert. Un­zäh­li­ge El­tern­ge­sprä­che und na­gen­de Selbst­zwei­fel kön­nen die Freu­de an der päd­ago­gi­schen Ar­beit stark be­ein­träch­ti­gen. Der Ver­such, die Ver­ant­wor­tung auf meh­re­re Schul­tern und damit auf Fach­lehr­per­so­nen, zu ver­tei­len, ist auch nicht die Lö­sung. Die Schu­le braucht drin­gend Klas­sen­lehr­per­so­nen, wel­che in mehr­stün­di­gen Un­ter­richts­blö­cken eine sta­bi­le Lern­be­zie­hung zu ihren Schü­le­rin­nen und Schü­lern auf­bau­en kön­nen. Es ist gut, dass Win­ter­hoff den Fin­ger auf die of­fe­nen Wun­den legt.

Hans­pe­ter Am­stutz, 69, ist Prä­si­dent der Bil­dungs­kom­mis­si­on der EVP. Der Vater von zwei er­wach­se­nen Kin­dern war 16 Jahre Mit­glied des Kan­tons­rats im Kan­ton Zü­rich und acht Jahre Mit­glied der kan­tons­rät­li­chen Bil­dungs­kom­mis­si­on sowie vier Jahre Ver­tre­ter der Volks­schu­le im Zür­cher Bil­dungs­rat. 42 Jahre lang war er als Leh­rer tätig, zu­letzt als Se­kun­dar­leh­rer.