Auf die neuesten Ratschläge von 20 Minuten-„Doktor Sex“ an den 26-jährigen Pirmin haben viele Schweizerinnen und Schweizer mit Kopfschütteln reagiert. (Zukunft CH hat gestern unter dem Titel: Frage an Bruno Wermuth: „Ist es erlaubt, unter der Sexualisierung zu leiden?“ darüber berichtet und kommentiert). Inzwischen haben wir den Sexualpädagogen Wermuth direkt mit unserer Kritik konfrontiert und folgende Antwort erhalten: „Ihren Interpretationen der von mir in der Beratung von Pirmin gemachten Aussagen liegen eine Haltung sowie ein Menschen- bzw. Gesellschaftsbild zugrunde, die keinen echten, offenen Dialog zulassen. Ich verzichte deshalb darauf, mich in Ihre Argumente zu vertiefen und dazu Stellung zu nehmen.“ Schon paradox! Wie kann jemand, der eine offene Haltung einfordert, kategorisch den Dialog verweigern?
Wie schon in der Antwort an Pirmin, macht sich Bruno Wermuth auch hier sein eigenes, offenbar sehr enges Weltbild zu Nutze, um einer echten Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Wir liessen Ihn daraufhin wissen, dass er es sich doch nochmals überlegen soll und wir auch künftig zum Dialog bereit sein werden. Wir wollten aber den Vorwurf, nicht dialogbereit zu sein, nicht auf uns sitzen lassen. Unsere Redaktion fügte darum einige Zeilen an, die das Dialogverständnis von „Doktor Sex“ auf die Probe stellen sollten: „Spannende Aussage, Herr Wermuth, die wir wie folgt interpretieren: Ihnen zufolge kann also z.B. jemand, der keine pornofreundliche Haltung hat, nicht offen über Pornos reden (eine in der Sexualpädagogik übrigens weit verbreitete Ansicht!)? Haben wir Sie richtig verstanden: Wer etwas grundsätzlich ablehnt, dem sprechen Sie die Fähigkeit ab, das, was er kritisiert, genau verstanden zu haben? Sie sprechen ihm die Fähigkeit ab, auf die Überlegungen anderer, die nicht so denken, einzugehen? Aber vielleicht ist jemand ja gerade deswegen klipp und klar gegen etwas, weil er es eben besonders gut verstanden hat?“

Was mag das also für ein Dialog sein, von dem Bruno Wermuth spricht? Ein Dialog, den es nur geben darf, wenn alle gleicher Meinung sind und einander eigentlich gar nichts Wesentliches (z.B. spannende Erkenntnisse über die Wirklichkeit) mitzuteilen haben? Im Fall von Bruno Wermuth aber lautet das vorausgesetzte Dogma wohl, dass die Sexualität ein Bereich im Leben ist, wo nur der individuelle Geschmack zählt, und darum keiner den anderen belehren oder auch nur auf eine objektive Tatsache aufmerksam machen darf. Oder mit den Worten Wermuths: „Die Wahrheit ist ein pfadloses Land. Wir Menschen haben die Freiheit zu wählen.“ Wozu aber soll dann, wie wir „Doktor Sex“ fragten, ein Dialog noch dienen? Wir können durch ein Gerede, das kaum mehr den Namen „Dialog“ verdient, einander vielleicht zeigen, wie tolerant und grosszügig wir sind. Wir können einander bestätigen, die Freiheit zu haben, sogar den Tod dem Leben vorzuziehen. Das ist sicher sehr nett gemeint. Aber leider geht so ein Dialog an der Wirklichkeit vorbei und ist kaum hilfreich, um das Leben zu meistern! Wer den Kopf gegen die Wand stösst, der wird auf einmal mit der harten Widerständigkeit der Realität konfrontiert. Und diese gibt es auch in der Sexualität, wovon Trauma- und Paartherapeuten vieles zu berichten wissen. Nein, Herr Wermuth, man muss nicht prüde sein, um sich auch in einer offenen, liberalen Gesellschaft zu fragen, was in Sachen Sexualität mehr oder weniger bekömmlich bzw. gesund ist. Ja, die Offenheit und Liberalität einer Gesellschaft misst sich ja gerade daran, ob auch diese Frage gestellt werden darf. Und die Sexualpädagogen sollten sich dieser Frage mit grossem Ernst stellen. Das wäre der Anfang eines fruchtbaren Dialogs!

Und dann noch etwas: Herr Wermuth ist ein prominenter und geradezu typischer Vertreter jener Sexualpädagogenzunft, die unsere Kinder über das intime Thema der Sexualität aufklärt. Er ist nach den Richtlinien von Sexuelle Gesundheit Schweiz ausgebildet, derjenigen Organisation, die in diesem Bereich quasi ein Ausbildungsmonopol besitzt. Und doch nimmt sich Wermuth das Recht heraus, Vertretern eines bestimmten Menschenbildes – das in der Gesellschaft aber weit verbreitet ist – den Dialog kategorisch zu verweigern. Wir fragen uns darum ernsthaft: Ist bei Leuten wie „Doktor Sex“ die Sexualerziehung eines Staates, der sich zum weltanschaulichen Pluralismus bekennt, wirklich in den richtigen Händen?