Unsere Gesellschaft verdrängt den Tod. Doch die Suizidbeihilfe-Organisation Exit zählt mit über 100’000 Mitgliedern zu den grössten Vereinigungen der Schweiz. Was denken Christen über Leben und Tod. Und was hat das mit Ostern zu tun?

Von Dominik Lusser

Menschen, die hin und wieder ans Sterben denken, sind zufriedener mit ihrem Leben als solche, die dies nicht tun. Diese These vertritt die Philosophin Denise Battaglia vom Medizinethikinstitut Dialog Ethik in ihrem neuen Buch „Leben, Tod und Selbstbestimmung“ (2016). Neuere Studien würden zeigen, dass der Gedanke an den Tod Menschen helfe, ihrem Leben Sinn zu verleihen. „Zufriedener seien sie vermutlich deshalb, weil sie ihre eigenen Wünsche, Ziele und Werte beim Gedanken an den Tod reflektieren und neu ordnen würden, interpretiert z.B. der US-Psychologe Kenneth E. Vail von der Universität Missouri-Columbia die Ergebnisse seiner Studie.“ Gemäss der Studie bleiben Menschen, die über den Tod nachdenken, ihren Prinzipien und Tugenden eher treu. Sie bauen aber auch mehr liebevolle Beziehungen auf, sind gütiger, einfühlsamer und gerechter und leben gesünder.

Memento mori

Auch in der christlichen Kultur hat, wie Battaglia darlegt, der vorausschauende Blick auf die eigene Endlichkeit unter dem Stichwort „memento mori“ eine lange Tradition. Der Ausdruck gehe letztlich auf den Psalm 90 in der Bibel zurück, in dem es heisst: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Im Kontrast zum heutigen Zeitgeist, der das Denken an den eigenen Tod eher verdrängt, ermutigt Battaglia dazu, den eigenen Lebensfaden „vom Ende her denkend zu spinnen“.

Der Tod ist zwar, wie Battaglia gut beschreibt, in Bildern allgegenwärtig. Wir würden überschwemmt mit Nachrichten von Todesfällen und mit Bildern von Toten. „Für den Tod gibt es in dieser Hinsicht keine Grenzen, er ist massiv, allgegenwärtig, unerschöpflich. Doch das ist der Tod der Vorstellung, der Tod als Gedanke und Bild, der Tod als Geist”, zitiert sie den norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgard. Doch den wirklichen Tod, den körperlichen, den sähen wir nicht. Er scheint ein gesellschaftliches Tabu zu sein.

Und doch ist er unausweichlich. Auch wenn der moderne Mensch mit Hilfe des medizinischen Fortschritts dem Tod ein immer längeres Leben abzuringen vermag, aus der Welt schaffen lässt er sich dennoch nicht. Und er bleibt ein Thema, das bewegt, wenn vielleicht auch mehr im Verborgenen, als in der grossen Öffentlichkeit. Dies zeigt die wachsende Mitgliederzahl bei der Vereinigung Exit Deutsche Schweiz, die u.a. assistierten Suizid anbietet. Auch 2017 hat die Mitgliederzahl wieder um mehr als 12’000 zugenommen. Was die Leute zu Exit treibt, ist die Angst vor der eigenen Ohnmacht und Abhängigkeit im Alter, die Angst vor einem schmerzhaften Tod. Doch gibt Exit wirklich die richtigen Antworten auf diese beklemmenden Emotionen, die jeden Menschen befallen können?

Humanes Sterben

Exit gab im März 2017 aber nicht nur bekannt, dass die Organisation nun bald 105’000 Mitglieder zählt. Es wurde auch publik, dass im Jahr 2016 722 Menschen die Suizid-Beihilfe des grössten Schweizer Sterbehilfevereins in Anspruch genommen haben. Und das sind 60 Personen weniger als noch 2015. Damit verzeichnet Exit erstmals seit 2008 wieder einen leichten Rückgang gegenüber dem Vorjahr. Als mögliche Gründe werden die „besser ausgebaute Palliativmedizin oder das Angebot anderer Sterbehilfeorganisationen” geltend gemacht. Der Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) forderte schon 2007 einen Rechtsanspruch auf Palliative Care sowie dessen substanziellen Ausbau. Denn durch eine gute Palliativbetreuung liesse oft der Suizidwunsch nach.

Was bedeutet das für Exit selbst? Mit dem Eingeständnis, dass die rückläufige Zahl an assistierten Suiziden auch auf die verbesserte Palliative Care zurückzuführen sein könnte, stellt sich Exit doch auch ein Stück weit selbst in Frage? Die Organisation könnte zwar einwenden, dass auch sie sich für Palliative Care einsetzt. Doch fragen wir uns mal, was Palliative Care als Gesamtkonzept zur Begleitung von unheilbar kranken Menschen eigentlich sein müsste? Palliative Betreuung besteht nicht nur in der Verabreichung von Schmerzmitteln. Sie umfasst vor allem auch eine psychosoziale und spirituelle Begleitung. Denn was sterbenskranke Menschen vor allem brauchen, ist Nähe, Solidarität und die Zusage, nicht im Stich gelassen zu werden. Nun ist aber allein schon das Anbieten von begleitetem Suizid ein Akt der Entsolidarisierung, wie der Philosoph Robert Spaemann sinngemäss sagt. Ein solches Angebot kann den Leidenden unter Druck setzen und in ihm den Eindruck nähren, unerwünscht zu sein. Mit anderen Worten: Palliative Care und assistierter Suizid sind miteinander nicht vereinbar.

Kultur des Todes oder des Lebens?

Was aber ist, wenn jemand trotz allem auf seinem Suizidwunsch beharrt? Spaemann würde auf eine entsprechende Anfrage einer nahestehenden Person antworten: „Du kannst nicht verlangen, dass ich von dir sage, es soll dich nicht mehr geben.” Das ginge über das hinaus, was ein Mensch tun und sagen dürfe. Spaemann spricht hier Grundlegendes aus. Das erste Prinzip einer menschlichen Gemeinschaft ist die Achtung des Lebens der anderen. Will jemand diese Gemeinschaft verlassen, so muss er diesen Schritt alleine tun. Wenn die Gesellschaft ihn dabei unterstützt, untergräbt sie ihr Fundament. Würde und Wert menschlichen Lebens gelten dann nicht mehr absolut, sondern werden zunehmend Nützlichkeitsüberlegungen unterworfen; den eigenen, oder derjenigen anderer. Und genau das ist es, was wir heute im Umgang mit dem Leben, von der Zeugung bis zum natürlichen Tod, erleben.

Auch das nahe Osterfest ruft den unverhandelbaren Wert des Lebens in Erinnerung. Christen sehen in Jesus, dessen Tod und Auferstehung an Ostern gefeiert wird, den Schlüssel dazu, selbst in Leiden und Angst ihr Leben und das Leben anderer konsequent zu bejahen. Dieser Glaube gibt dem christlichen „memento mori” eine ganz besondere Perspektive. Stoiker gab es zu allen Zeiten. Aber ist es dem Menschen wirklich zumutbar, an den eigenen Tod zu denken, wenn mit ihm alles zu Ende sein soll? Geht der Gedanke, dass es keine Hoffnung mehr geben soll, nicht über das Mass des Erträglichen hinaus?

Daran schliesst sich auf der anderen Seite die Frage an: Ist die Planung des eigenen Suizids wirklich eine Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und Sterblichkeit, oder nicht vielleicht vielmehr der verzweifelte Versuch, ihr – oder wenigstens der Angst und dem Leiden, die sie mit sich bringt – auszuweichen? Ich sage „vielleicht”. Denn wenn es auf Leben und Tod geht, trägt sich in der unergründlichen Tiefe menschlicher Existenz so manches zu, das sich jeder Erkenntnis von aussen und jeder Vorhersehbarkeit entzieht. Denn schliesslich sind es ja nicht allein Atheisten, sondern auch Christen, die zu Exit ihre „Zuflucht” nehmen. Doch so viel scheint mir klar. Die Entscheidungen, die ich während meines Lebens treffe, und erst diejenigen im Angesicht des Todes, können kaum unberührt bleiben davon, ob ich an ein ewiges Leben glaube oder nicht.

Es fällt jedenfalls auch auf, dass es in der Schweiz hauptsächlich gläubige Christen sind, die sich (beispielsweise beim „Marsch fürs Läbe”) für die unantastbare Würde jedes menschlichen Lebens einsetzen, und der Unterscheidung in lebenswertes und nicht (mehr) lebenswertes Leben keinen Raum zugestehen wollen. Vor diesem Hintergrund dürfen wir als Gesellschaft der Frage nicht ausweichen, wie sich eine weitere Entchristlichung der Schweiz auf den Umgang mit dem menschlichen Leben auswirken würde. Es ist zwar letztlich auch eine tief religiöse Frage, welchen Wert man dem Leben beimisst, und wie man zum Tod steht. Die gesellschaftlichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind aber bei weitem nicht nur Privatsache.