Es geht bei der Selbstbestimmungsinitiative nicht um die Gültigkeit der Menschenrechte, sondern darum, ob die Schweiz ein unabhängiges und direkt demokratisches Land bleiben will, das selbst im Stande ist, die Grundrechte seiner Bewohner zu schützen.

Kommentar von Dominik Lusser

Würde das Schweizer Volk die Selbstbestimmungsinitiative der SVP annehmen, hätte dies keineswegs die Kündigung der 1974 ratifizierten Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zur Folge, wie oft behauptet wird. Dies hat der Freiburger Rechtsprofessor Marcel A. Niggli in der „Weltwoche“ vom 4. Januar 2018 dargelegt. Niggli weist darauf hin, dass sämtliche von der EMRK garantierten Menschenrechte inzwischen als Grundrechte in der neuen Bundesverfassung verankert sind, weswegen kein Widerspruch zwischen EMRK und Schweizer Gesetz mehr besteht. Die Initiative fordere lediglich eine Änderung hinsichtlich der Frage, wer im Streitfall „konkret über Anwendbarkeit und Auslegung der EMRK in der Schweiz entscheidet“. Heute läge „das letzte Wort“ beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), bei Annahme der Initiative hingegen künftig beim Bundesgericht.

Niggli verweist auch auf Deutschland, wo das Bundesverfassungsgericht bereits heute letztgültig über die Auslegung der EMRK entscheidet. In unserem nördlichen Nachbarland gilt somit klar: Kommt es zwischen dem EGMR und dem Bundesverfassungsgericht zum Konflikt, wie die EMRK auszulegen ist, geht die Souveränität Deutschlands vor. Warum für die Schweiz etwas anderes gelten sollte, ist nicht nachvollziehbar. Denn die heftig angefeindete Selbstbestimmungsinitiative fordert nichts weiter, als dass eine staatspolitische Binsenweisheit explizit in der Verfassung verankert wird: Demokratische Staaten machen ihre Gesetze selbst und entscheiden auch selbst über deren Anwendbarkeit und Auslegung.

Aus diesem Grund ist die Kampagne „Schutzfaktor M“, welche die Selbstbestimmungsinitiative als „Anti-Menschenrechts-Initiative“ verunglimpft, irreführend. Die mittlerweile von 108 Organisationen unterstützte Kampagne – Zukunft CH hat auf Anfrage hin eine Unterstützung abgelehnt – behauptet, dass bei Annahme der Initiative die EMRK als Garantin für unsere Grundrechte wegfallen würde. Doch das ist schlicht nicht wahr.

Zu glauben, ein internationaler Gerichtshof wäre im Streitfall per se, nur weil er international ist, ein besserer Garant für Grund- und Menschenrechte, ist naiv. Im Gegenteil: Der neuerdings vom EMGR erhobene Anspruch, den Inhalt der EMRK „dynamisch“ weiterzuentwickeln, stellt eine fragwürdige Verpolitisierung der Justiz dar, welche die demokratische Gewaltenteilung in Frage stellt. Dies wird laut Alt-Bundesrichter Martin Schubarth (SP) beispielsweise an der vom Strassburger Gericht vertretenen These deutlich, „die in der EMRK enthaltenen Werte seien entsprechend dem ‚gesellschaftlichen Wandel in Europa‘ auszulegen.“

Die Gefahr, dass die Justiz selbst Politik betreibt, ist immer gegeben. Ein Gericht wie der EGMR, dem im Unterschied zum Schweizer Bundesgericht laut Schubarth „kein Gesetzgeber als Konterbalance gegenübersteht“, ist aber diesbezüglich einem besonderen Risiko ausgesetzt.

Es geht bei der Selbstbestimmungsinitiative folglich nicht um ein Ja oder Nein zu den Menschenrechten – diese bleiben unangetastet –, sondern um die Frage, ob die Schweiz ein unabhängiges und direkt demokratisches Land bleiben will, das sich zutraut, die Grundrechte seiner Bewohner selbst zu schützen.